Weiter nachdenken

Leipziger Erklärung verschärft die Existenzkrise der Partei

»Über allen steht eine Parteiführung, die kein Machtwort spricht, sondern sich mittels
Erklärungen selbst die Fähigkeit zuspricht, etwas zusammen zu halten, ohne auf diejenigen, die
zusammengehalten werden sollen, zuzugehen.« (Ines Schwerdtner, JACOBIN, 14. Dezember 2022)

Wir, Mitglieder des Liebknecht-Kreis Sachsen, sind enttäuscht. Die ohne Gegenstimme angenommene Leipziger Erklärung unseres Führungspersonals vom 10. Dezember 2022 macht zwar den geradezu dramatischen Ernst der existentiellen Krise in unserer Partei deutlich, aber sie belegt auch die kollektive Unfähigkeit der Führung, die zerstrittene Partei mit einer zeitgemäßen linken Handlungsorientierung wieder zusammen zu führen.
Die Erklärung ist konturenlos hinsichtlich der Lageanalyse und hilflos hinsichtlich des Aufzeigens eines Auswegs aus der existentiellen Krise der LINKEN. Weil unsere Partei immer weniger eine linke Wahlalternative ist, wird sie von Vielen nicht mehr gewählt. Grundfehler der Erklärung ist es, dass sie mit keinem Wort auf die eigentlichen Ursachen des langjährigen Niedergangs der Partei eingeht und die tiefen inhaltlichen politischen Konflikte in der Partei vertuscht. Stattdessen ist vom „zerstörerischen Gegeneinander“ die Rede, ohne auszuführen, was und wer denn die Partei zerstört.

Überhaupt bleibt unerwähnt, was viele ihrer Mitglieder und Wählerinnen und Wähler vor allem umtreibt: Die Diffamierung von Sahra Wagenknecht wegen einer guten kämpferischen Bundestagsrede sowie die Mauserung zahlreicher unserer Spitzenpolitiker zu NATO-„Verstehern“ und
zu Befürwortern von Sanktionen gegen Russland und von Waffenlieferungen an die Ukraine.
Worin bestehen außerdem die Konflikte?

Erstens mit dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 hat sich die Partei in neuer Qualität – personell wie auch inhaltlich – in den bestehenden Politikbetrieb eingeordnet. Als systemoppositionelle Partei des Erfurter Programms von 2011 und als erste bundesweite Adresse des politischen Protestes gegen die Regierenden hatte sie sich schon vorher verabschiedet. Nunmehr ist sie auch in der Außenpolitik auf einen harten Kurs gegen die Russische Föderation eingeschwenkt. Die Einheit von Antikriegspartei und sozialer Protestpartei wird ersetzt durch die Orientierung auf eine
Sozialpolitik ohne Bezug zum Friedenskampf. An die Stelle des Kampfes gegen USA und NATO tritt die Warnung vor einer „Wiederbelebung“ der „ökonomischen und militärischen Blockkonfrontation“, so als ob diese verschärfte Blockkonfrontation nicht längst auf neuer Stufe Realität wäre: besonders in Form des sich mittlerweile mehr zum Stellvertreterkrieg zwischen USA und NATO gegen Russland (und letztlich gegen China) gewandelten Ukrainekrieges.

Zweitens: Konkretes zur Verfasstheit der „pluralen sozialistischen Partei“, die es nach der Erklärung zu „verteidigen“ und „weiterzuentwickeln“ gilt, ist in der Erklärung nicht zu finden. Um den Pluralismus, der verteidigt werden soll, ist es nicht gut bestellt. Nach dem Erfurter Parteitag ist nicht nur die Strömung um Sahra Wagenknecht nicht mehr im Vorstand der Partei vertreten. Im Parteivorstand sind Bewegungslinke und linke Reformer faktisch unter sich. Linke Strömungen in der Partei wie die Sozialistische Linke, die Gewerkschaftslinke und die Antikapitalistische Linke sind
nicht mehr vertreten. Der aus Sicht des Parteivorstandes aufmüpfige Ältestenrat unter Hans Modrow wurde innerparteilich ins Abseits manövriert. Dafür umfasst der Pluralismus nunmehr auch NATO-„Versteher“ – eine unerträgliche Situation für viele Genossinnen und Genossen.
Und von wegen „sozialistischer“ Partei“: Sozialistische Grundsätze sind in der Erklärung nicht zu finden. Fehlanzeige für all das, was dazu im Erfurter Parteiprogramm von 2011 als Aufgaben der Partei geschrieben steht: wie „grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft …, die den Kapitalismus überwindet“ (Präambel), „Entstehung und Durchsetzung von Klassenmacht“, „strategische Kernaufgabe“, Beitrag zur „Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ (V.) usw.

Drittens: Die Erklärung verfehlt mit ihrer „Zahnlosigkeit“ und mit der fehlenden Bereitschaft, „auf diejenigen, die zusammengehalten werden sollen zuzugehen“ (Ines Schwerdtner) die Revitalisierung der LINKEN. Sie orientiert in Wirklichkeit auf ein „weiter so“, dessen Hinnahme dazu führen würde, die existenzielle Krise der Partei noch zu verschärfen. Es bedarf eines umfassenden Aufbruchs in der Partei von unten, um das zu verhindern. Die von der Führung der Partei mit dem Erfurter Parteitag ausgeschlossene Parteilinke muss eigenständig in die Debatte um die Zukunft der Partei eingreifen. Nur eine umfassende Parteidebatte, die die Einberufung eines Sonderparteitages einschließt, kann die Partei noch retten.

Wir brauchen eine Fortentwicklung des Erfurter Programms und nicht die Entsorgung marxistischer und friedenspolitischer Grundpositionen dieses Programmes. Die Befürwortung einer politischen und militärischen Unterstützung des Stellvertreterkrieges des Westens in der Ukraine muss als unverträglich mit den Grundsätzen unserer Partei benannt werden. Wieder hergestellt werden muss die Einheit unserer Sozialpolitik mit dem Friedenskampf. In den Mittelpunkt unserer Friedenspolitik ist der Kampf gegen das Hegemoniestreben von USA und NATO zu stellen. In der Diskussion um die Zukunft der Linkspartei geht es aber nicht nur um die Erneuerung unserer Partei als linke Wahlalternative. Es geht längerfristig auch um eine linke Partei, die in der Lage ist, solidarische Gegenmacht zu schaffen, die Politik der Herrschenden von links zu beeinflussen und anhaltend der Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems zu widerstehen.

Veröffentlicht in der jungen welt vom 19.12.2022, S. 8