Bis alles in Flammen aufgeht
Nicht den Krieg, sondern den Frieden gewinnen. Ein Jahr Ukraine-Krieg
Von Heinz Bilan, Volker Külow, Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel**
Aus: junge welt, Ausgabe vom 21.02.2023 – Seite 12 f.
»We are fighting a war against Russia and not against each other.« (Annalena Baerbock am 24. Januar 2023 , vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strasbourg)
Bisher hat es im laufenden Ukraine-Krieg 280.000 tote und verletzte Soldaten sowie Zehntausende zivile Opfer auf beiden Seiten gegeben.1 Nach einem Jahr ist ein Abnutzungskrieg mit immer mehr Opfern und Zerstörungen im Gange. Friedensverhandlungen oder ein Waffenstillstand sind nicht in Sicht. Die Zeichen stehen auf weitere Konfrontation. Die Kriegslogik hat die Oberhoheit erlangt: Die USA und die EU-Staaten agieren als Kriegsparteien. Mehr als 30.000 ukrainische Soldaten wollen die EU-Staaten demnächst ausbilden. Die Gefahr, dass der Ukraine-Krieg in einen dritten Weltkrieg mit nuklearen Waffen mündet, wächst.
Kritisches politisches Denken konnte auf neue Weise von den Leitmedien und den Regierenden eingehegt wer den. Die Meinungsführerschaft gegen den Krieg liegt fatalerweise bei den Rechtspopulisten von der AfD. Die Friedensbewegung ist verwirrt und gespalten; die Linkspartei droht, als Friedenspartei zu versagen. Ein Licht streif am Horizont ist das »Manifest für Frieden« von 68 Prominenten aus Politik, Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft, das mittlerweile von mehr als 500.000 Bürgerinnen und Bürgern unterschreiben wurde.
Befeuert wurde der Krieg durch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und die Sprengung der Nord Stream-Pipelines durch die USA und Norwegen.2 Die verbreitete Sorge um eine Ausweitung des Krieges wird von einflussreichen Medien als »Krankheit, die man als Eskalationsphobie bezeichnen muss«3, verhöhnt. Von
Verhandlungen, die Frieden bringen könnten, ist man weit entfernt; ein Hoffnungszeichen ist die Ankündigung einer internationalen Friedensinitiative von Brasilien.
Hegemoniekrise der USA
Der Ukraine-Krieg macht erneut deutlich, dass entgegen der UN-Charta Kriege wieder Mittel der Politik geworden sind und dass sie aus sehr unterschiedlichen Konflikten erwachsen:
- Der Ukraine-Krieg dient besonders den Hegemonieinteressen der USA und den Profitinteressen der Rüstungsindustrien zahlreicher Länder.
- Er steht in der Kontinuität US-amerikanischer Politik, die NATO nach dem Epochenumbruch 1989/1991 bis an die Grenzen Russlands auszudehnen und Russland möglichst zu schwächen.
- Er ist auch Folge verletzter nationaler und sicherheitspolitischer Interessen Russlands und einer unverhohlenen Großmachtpolitik der gegenwärtigen Führung im Moskau.
- Der Krieg nährt sich von den mittlerweile (auch durch den Krieg selbst) geschürten ultranationalistischen und russlandfeindlichen Stimmungen in der Ukraine.
- Er folgt der 2014 formulierten Position der Russischen Föderation, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, die sich außerhalb der Russischen Föderation aufhalten, sorgen zu wollen.4
Der Ukraine-Krieg spiegelt, was in linken Diskursen meist sträflich vernachlässigt wird, auch die Hegemonie kämpfe der Großmächte des Westens untereinander wider, vor allem zwischen den USA und der BRD. »Die Wahrheit der Natur sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington-London-Warschau-Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei.«5
Nach einem Jahr Krieg bestimmen die USA maßgeblich den Fortgang des Krieges. »Nach dem Leopard ist vor dem Tornado«, schrieb die FAZ vom 26. Januar 2023. Ist eine neue Aufrüstungs- bzw. Konfrontationslinie erreicht, zeichnet sich bereits die nächste ab. Kaum hatte die NATO am 25. Januar 2023 entschieden, die Ukraine mit mehreren hundert schweren Kampfpanzern von den Typen »Leopard 2«, »M1 Abrams« und »Challenger 2« auszurüsten, verlangt die Ukraine mehr. Von Kampfjets, Kriegsschiffen, U‑Booten und Langstreckenraketen ist nun die Rede. So entsteht eine Spirale der Eskalation: Die Ukraine fordert von ihren Verbündeten Waffen bis zum Sieg – und die NATO-Staaten liefern.
Die Bundesregierung hat den Kurs der Eskalation trotz gewissen Zögerns bisher stets mitgetragen. Ob die jüngste Zusicherung des Bundeskanzlers, Kampfjets für die Ukraine werde es nicht geben, tatsächlich eine rote Haltelinie ist, werden die nächsten Wochen zeigen. Sein vieldeutiges Credo lautet bekanntlich, dass Putin »den Krieg nicht gewinnen, die Ukraine ihn nicht verlieren darf«. Getrieben von einer Allianz der NATO-Scharfmacher in Polen, England, den baltischen Staaten und den Leitmedien des Mainstreams folgte Scholz bisher immer den Vorstellungen der US-Administration.
Systemauseinandersetzung
Bekanntlich sprach er frühzeitig von einer »Zeitenwende«, die durch den Krieg entstanden sei. »Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.«6 In einem Papier von Außenpolitikern der SPD mit dem Titel »Antworten auf eine Welt im Umbruch« wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine wahrheitswidrig bezeichnet als »bisher brutalste® Bruch mit Grundprinzipien der internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam errichtet wurde«.7
Hier findet Legendenbildung jenseits der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge statt. Die wirklichen internationalen Konstellationen, die offensichtliche Demontage der US-Hegemonieansprüche, die tatsächlichen geschichtlichen Umbrüche in Europa bleiben außerhalb der Betrachtung. Vom NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wird
Eben so wenig gesprochen wie von den Kriegen im Irak, in Afghanistan oder Libyen sowie von der Wende hin zum Konfrontationskurs mit dem NATO-Gipfel 2008, als die USA unter George W. Bush sieben NATO-Aufnahmeanträge befürworteten, einschließlich den der Ukraine, und dann die Initiative Russlands unter Präsident Dmitri Medwedew für eine Sicherheitsallianz mit dem Westen ablehnten.
Die heutige Weltordnung entwickelte sich mit und nach dem Zusammenbruch des europäischen Realsozialismus 1989 bis 1991 sowie im Zuge der Hegemoniekrise der USA infolge der erfolgreichen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Volksrepublik China. Die Zeitenwende bzw. der Epochenumbruch erfolgten zu jener Zeit. Die Wende hin zur verschärften Konfrontation mit Russland und China fand vor allem in den Jahren 2008 ff. statt.
Zwei historisch dominante Abläufe bestimmen diese Zeitenwende bzw. diesen Epochenumbruch: Zum einen führen die USA einen Kampf gegen ihren ökonomischen Abstieg als Weltwirtschaftsmacht Nummer eins und den drohenden Verlust ihrer globalen Hegemonie. Sie haben deshalb seit einigen Jahren ganz offiziell China zum Hauptfeind erklärt. Als mächtige Atommacht und mit 860 Milliarden US-Dollar Rüstungsausgaben (2021), 13 Flugzeugträgern, 625 Militärbasen in aller Welt und gestützt auf die NATO sind sie jetzt und auf absehbare Zeit die bei weitem stärkste globale Militärmacht und verfügen nicht zuletzt dadurch über erhebliche politische Handlungsmöglichkeiten. Sanktionspolitik, Erpressung, Regimewechsel und Wirtschaftskriege kennzeichnen ihre Bereitschaft, die ihnen zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen, politischen, geheimdienstlichen und militärischen Ressourcen einzusetzen. Das tun sie auch jetzt zum militärischen Vorteil der Ukraine gegen Russland.
Zum anderen ist die Volksrepublik China in der Systemauseinandersetzung wirtschaftlich klar auf der Überholspur. Zwischen 2020 und 2022 gewann China beim kaufkraftbereinigten Welt-BIP elf Prozentpunkte; die USA verloren vier Prozentpunkte. Seit Jahren meldet China Zehntausende Patente mehr als die USA jährlich an. Hin sichtlich ihrer Militärausgaben liegt China mit geschätzten 293 Milliarden US-Dollar (2021) deutlich hinter den USA. Nach dem Centre for Economic and Business Research wird China im Jahr 2028 die USA hinsichtlich des nominalen BIP eingeholt und im Jahr 2035 mit 35 Billionen Dollar überholt haben (USA: 26 Billionen).
Diese entstehende neue bipolare Weltlage, deren Ausprägung in den nächsten Jahrzehnten weitere große Veränderungen mit sich bringen wird, bestimmt die geschichtliche Einordnung des Ukraine-Krieges. Gewiss ist: Die Russische Föderation ist mit ihrem Angriff auf die Ukraine in eine von den USA und der NATO gestellte Falle gegangen. Russland ist zwar global nicht isoliert, wie im Westen immer dargestellt wird, aber doch außenpolitisch in einer eher defensiven Position. Geopolitische Konflikte, die mit einem Wechsel der Führungsmacht einhergehen, verliefen in der Weltgeschichte bislang oft entsprechend der »Thukydides-Falle«, d. h. sie korrelierten zu meist mit einem Krieg.8 Die Chance, sie durch friedliche Streitbeilegung abzumildern, sind geringer geworden. Auch die weiter vorangetriebene Hochrüstung der NATO-Staaten steht dem entgegen. US-Luftwaffengeneral Michael Minihan empfiehlt der US-Administration, sich für 2025 auf einen Krieg gegen China einzustellen.9
Politik gegen das Grundgesetz
Die hochexplosive Weltlage inmitten einer neuen Systemauseinandersetzung, mit der wir es zu tun haben, trifft auf eine verbreitete Unfähigkeit, die eingetretenen Gefahren für die Weltzivilisation zu erkennen. In der Bundesrepublik dominiert bei den Regierenden und den Leitmedien ein Bellizismus, der als »Friedenspolitik« camoufliert wird. In der Bevölkerung sind die Auffassungen über den Ukraine-Krieg gespalten.
Richtig ist: Das Völkerrecht kennt weder »militärische Spezialoperationen« und zulässige Präventivkriege noch ein Recht auf Krieg zum Schutz der eigenen Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Staat. Die UN-Charta gewährleistet ein Recht auf Selbstverteidigung (Artikel 51), und sie orientiert darauf, den Frieden zu wahren. Artikel 51 der UN-Charta haben die USA weder in Vietnam, in Jugoslawien, im Irak noch in Afghanistan beachtet; Russland nun auch nicht.
Der Weg zu einem Friedensschluss in der Ukraine wird mittlerweile versperrt. Die Politik des Westens steht für eine Torpedierung von Verhandlungslösungen und für ein Anheizen des Krieges. Ukraine, USA und NATO verhalten sich so, als ob sich aus dem Recht auf Selbstverteidigung gegen Russland ein Recht auf Krieg gegen Russland bis zu dessen Ruin ergeben würde.
Die Regeln des Völkerrechts wie auch des Grundgesetzes aber besagen etwas anderes: Wenn ein Krieg ausgebrochen ist, so muss nach beider Recht alles getan werden, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Nach Präambel, Artikel 24 und 26 des Grundgesetzes besteht ein verfassungsrechtliches Friedensgebot für die Außenpolitik. Deutschland muss »das ihm Mögliche unternehmen, den innerstaatlich beeinflussbaren Ursachen künftiger Kriege umfassend zu begegnen«.10 Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, schreibt zu Recht: »Das Grundgesetz toleriert die Unterstützung einer Kriegspartei (…) nur dann, wenn diese ge eignet ist, eine friedliche Lösung zu ermöglichen. Die Bundesrepublik ist deshalb in der Pflicht, der deutschen Bevölkerung zu erklären, innerhalb welcher Grenzen und mit welchem Ziel die Unterstützung der Ukraine er folgt.«11
Stellvertreterkrieg
Dem Krieg voraus ging eine langfristige Expansion von NATO und EU nach Osteuropa. Im Vorfeld des Krieges provozierte die Führung der Ukraine einen Bürgerkrieg. Der Beitritt zur NATO wurde vorbereitet. Er ist als Staatsziel sogar 2019 in die ukrainische Verfassung hineingeschrieben worden.
Im Maidan-Putsch stürzten die USA zusammen mit faschistischen und ultranationalistischen Kräften in der Ukraine am 21. Februar 2014 die mit Russland sympathisierende Regierung unter Wiktor Janukowitsch. Sie setzten eine Regierung ein, die den USA passte. Das Land rüstete erheblich auf. Der russischen Minderheit wurde das Recht auf ihre eigene Sprache genommen. Im Widerstand gegen diese Politik konstituierten sich im Donbass die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk. Es entwickelte sich in der Ukraine ein erbitterter Bürgerkrieg, der 10.500 Tote und 24.000 Verletzte forderte, darunter ca. 1.500 gefallene russische Soldaten, wobei die tatsächliche Zahl der Opfer höher liegt.12 Das internationale Abkommen »Minsk II« vom Februar 2015 zur friedlichen Lösung dieses Konflikts war offenbar ein Täuschungsmanöver, um die Ukraine aufzurüsten und Russland zu pro vozieren.13
Die politische Führung der Ukraine unter Selenskij ist heute auf Kriegskurs. Ihre Interessen haben sich mit den globalen Interessen des US-Imperialismus verbunden. Eine parlamentarische bzw. politische Opposition existiert im Lande nicht mehr. Regierung, Staat und Kriegführung sind vom »Westen« abhängig – finanziell, militärisch und politisch: »Die Ukraine wird fremdfinanziert. Sie ist kein klassischer Staat mehr.«14
Seit dem Angriff Russlands hat die Ukraine (Stand Januar 2023) vom Westen unmittelbare Militärhilfe im Wert von 45 Milliarden Euro erhalten. Das entspricht 95 Prozent der gesamten Verteidigungsausgaben Russlands in einem Jahr. Die Gesamthilfe westlicher Länder an die Ukraine seit Beginn des Krieges beläuft sich auf etwa 140 Milliarden Euro. Das ist fast das Dreifache des gesamten Jahresbudgets des Landes in Höhe von 52 Milliarden Euro für das Jahr 2022. Hinzu kommt der Beistand durch Ausbildung ihrer Soldaten und durch Informationen der Geheimdienste der NATO-Staaten.
Im April 2022 stoppte die ukrainische Regierung nach Intervention des damaligen britischen Premiers Boris Johnson ihre Bereitschaft bei Verhandlungen, den Krieg zu beenden. Die NATO sicherte wenig später bei einem Spitzentreffen von 40 Staaten in der Air Base Ramstein der Ukraine zu, ihr im Krieg gegen Russland »beizustehen«. Damit waren die Weichen gestellt.
Zum Synonym für »Solidarität mit der Ukraine« wurde die Waffenbeschaffung. Der Krieg nahm vollends den Charakter eines Stellvertreterkrieges von USA/NATO gegen Russland an – »bis zum letzten Ukrainer«. »Wir führen heute eine Mission für die NATO durch, ohne ihr Blut zu vergießen«, meinte der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow am 12. Januar 2023.15
Von Anfang an war der Ukraine-Krieg auch ein Wirtschaftskrieg gegen Russland. Er festigte die Vormachtstellung der USA gegenüber der EU und Deutschland. Die USA und die EU-Außenminister beschlossen am 25. Februar 2022 wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, die dann neunmal erweitert wurden. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock frohlockte: »Das wird Russland ruinieren.«16 Am 10. Januar 2023 bekannten sich EU und USA in einer gemeinsamen Erklärung zur »strategischen Partnerschaft« und bekräftigten das »naturgegebene Recht der Ukraine, sich selbst zu verteidigen und ihr Schicksal selbst zu bestimmen«.17
Die eigentlichen Gewinner des Wirtschaftskrieges gegen Russland sind die USA. Die deutsche Wirtschaft verlor ihre stabile und kostengünstige energetische Basis, die Bevölkerung ihre preiswerte Strom- und Gasversorgung. Die wirtschaftliche Kooperation zwischen Deutschland und Russland ist nun längerfristig ausgeschlossen. Die deutsche Industrie muss sich neu strukturieren und scheidet weltpolitisch als wirtschaftlicher Konkurrent der USA aus.
Nach einem Jahr Ukraine-Krieg liegt das Gesetz des politischen Handelns zwar nicht in den Händen der USA. Aber Washington hat viele seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen gegenüber seinen Konkurrenten durchsetzen und die EU-Staaten stärker disziplinieren können. Die USA bestimmen überwiegend, wie es mit der Eskalation im Stellvertreterkrieg gegen Russland weitergeht. Deutschland folgte dieser Politik entgegen den Ge boten des Grundgesetzes bisher zuverlässig.
Linke wackelt als Friedenspartei
Dringender denn je ist gerade auch in Deutschland ein deutliches Nein gegen die von den Regierenden betriebe ne Hochrüstung und gegen durch Lieferung immer schwererer Waffen eskalierende Kriegsgefahr. »Deshalb soll ten durch die Partei Die Linke die Lieferung von Angriffswaffen an die Ukraine und die Fortsetzung des Wirtschaftskrieges mit aller Klarheit und Überzeugungskraft verurteilt werden.«18
Es gehörte zu den Stärken der Linkspartei, dass sie in ihrem Programm die sich damals abzeichnende Konfrontationspolitik von USA und NATO richtig einschätzte und sich der wachsenden Kriegsgefahr entgegenstellen wollte. In den Abschnitten II und IV unter den Überschriften »Imperialismus und Krieg« sowie »Abrüstung, kollektive Sicherheit und gemeinsame Entwicklung«19 heißt es im Programm der Linkspartei von 2011: »Imperiale Kriege erwachsen aus Kämpfen um geopolitische Macht, um ökonomische, politische und kulturelle Vorherrschaft, um Profite, Märkte und Rohstoffe.« Verwiesen wird auf eine Weltlage, in der die »Hegemonie der USA als einzige nach der bipolaren Konfrontation verbliebene Supermacht (…) in Frage gestellt« ist und »Kriege, ein schließlich präventiver Angriffskriege (…), den führenden Kräften der USA, der NATO und der EU wieder als taugliche Mittel der Politik« erschienen. Daraus wurden eine Reihe von Schlussfolgerungen für die Linkspartei als »Friedenspartei« gezogen: »Aufklärung über tiefere Zusammenhänge von Konfliktursachen«, »Zusammenarbeit mit Friedensbewegung und allen friedensorientierten Partnern« im Ringen um »strukturelle Gewaltprävention und für einen zivilen Konfliktaustrag« und »Auflösung der NATO und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands«.
Im ersten Jahr des Ukraine-Krieges war dies jedoch alles vergessen. Die Führung der Linkspartei erwies sich als unfähig, eine taugliche Einschätzung der Weltlage und eine überzeugende Handlungsorientierung im Friedenskampf zu geben. Sie fiel damit sogar weit hinter realistisch denkende und um den Frieden besorgte Militärs wie Harald Kujat und Oberst Jacques Baud aus der Schweiz zurück.
Auf ihrem Erfurter Parteitag vom 24. bis 26. Juni 2022 näherte sich die Partei dem Mainstream weiter an. Eine Sanktionspolitik wurde nicht mehr grundsätzlich abgelehnt. Auch faktische NATO-Versteher wie Klaus Lederer, Juliane Nagel, Bodo Ramelow und Katina Schubert gehörten nunmehr zur »pluralistischen Breite« der Partei. Gegen Sahra Wagenknecht, die am 8. September 2022 im Bundestag mit einer kraftvollen Rede den Irrsinn des Wirtschaftskrieges gegen Russland und dessen Auswirkungen auf Deutschland angeprangert hatte, wurde ein Shitstorm organisiert, was aber nicht richtig gelang.
Am 10. Dezember 2022 unterschrieb das gesamte Führungspersonal der Partei dann die »Leipziger Erklärung«20, ein Dokument des Abschieds vom Erfurter Programm von 2011. Einen Monat später ruderte der Parteivorstand unter dem Druck einer anwachsenden Proteststimmung in der Partei wieder zurück und warnte vor einer »weite ren Eskalation des Krieges (…) mit nicht abschätzbaren Folgen«.21
Die Autoren der »Leipziger Erklärung« verurteilen den »völkerrechtswidrige(n) Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine« und bekennen sich zum »Selbstverteidigungsrecht der Ukraine«. Vom tatsächlichen Charakter des Krieges als Stellvertreterkrieg von USA und NATO gegen Russland sprechen sie nicht. Allerdings wenden sie sich zumindest gegen einen langen Abnutzungskrieg »mit verheerenden Folgen, immer mehr Waffen und der Gefahr einer weiteren gefährlichen Eskalation«. Plädiert wird für »Waffenstillstand und Friedensverhandlungen«, für eine »Rückkehr zur internationalen Kooperation« und für »weltweite Zusammenarbeit – auch mit China und Russland«.
Eine Kampfansage an USA, NATO und die Regierenden in Deutschland im Sinne ihres Programms ist das aber ebenso wenig wie eine »tiefere Aufklärung« über »Imperialismus und Krieg« heute. Von einer »Auflösung der NATO« wird nicht mehr gesprochen. Dem entspricht der Unwille der Führung der Linkspartei, sich dem Friedensaufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer anzuschließen. Der entsprechende Druck auf die Parteiführung ist aber gewachsen, weil an der Basis für die Kundgebung am 25. Februar in Berlin umfangreich mobilisiert wird und immerhin rund 8.000 oppositionelle Parteimitglieder sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten der Partei im Vorfeld des ersten Jahrestages des Kriegsbeginns den Parteivorstand und die linke Bundestagsfraktion aufgefordert haben, sich eindeutig und klar gegen jede deutsche Mitwirkung am Ukraine-Krieg zu positionieren: »Die Linke muss die friedenspolitischen Positionen ihres Erfurter Programms endlich wieder ernst nehmen, sonst gibt sie sich auf und ist nur noch ein Anhängsel des herrschenden Blocks.«22
* Die Autoren sind im Stadtverband Leipzig der Partei Die Linke aktiv.
1 Vgl. Dietmar Bartsch, Deutscher Bundestag, stenographischer Bericht, 81. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 25. Januar 2023, S. 9675
2 So jedenfalls Seymour Hersh: Mission erfüllt, in junge Welt vom 10.2.2023
3 Joachim Krause: Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit, FAZ vom 7.2.2023
4 Vgl. Militärdoktrin der Russischen Föderation (russ.). Moskau, Dezember 2014, Paragraph 22
5 Emmanuel Todd: In diesem Krieg geht es um Deutschland, Weltwoche vom 7.1.2023. weltwoche.ch/story/in-diesem krieg-geht-es-um-deutschland/postcomments
6 Olaf Scholz: Regierungserklärung, Deutscher Bundestag, stenographischer Bericht. Berlin, Sonntag, den 27. Februar 2022, S. 1350
7 Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch, SPD-Kommission »Internationale Politik«, Berlin, 20.1.2023, spd.de, S. 2
8 Der Begriff der Thukydides-Falle wurde vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Graham T. Allison geprägt. Er beschreibt damit anhand von 16 historischen Beispielen die Wahrscheinlichkeit eines Krieges, wenn eine aufstrebende Macht die bestehende Großmacht zu verdrängen droht. In drei Viertel aller Fälle war das bisher so. Der Begriff wird heute vor allem verwendet, um auf die Gefahr eines großen Krieges zwischen USA und China zu verweisen.
9 Vgl. Merkur.de, 29.1.2023
10 Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band 2, Neuwied und Darmstadt 1984, S. 1501
11 Interview mit General a. D. Harald Kujat, zeitgeschehen-im-fokus.ch/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar 2023.html
12 Sabine Fischer: Der Donbass-Konflikt, Widerstreitende Narrative und Interessen, schwieriger Friedensprozess, in: Schriftenreihe des Instituts für Wirtschaft und Politik, Studie 3. Berlin, Februar 2019, S. 9
13 Angela Merkel erklärte Ende 2022 in einem Interview: »Das Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu ge ben, um stärker zu werden, wie man heute sieht.« Die Zeit vom 30.11.2022
14 Emmanuel Todd: Interview, Weltwoche vom 7.1.2023
15 Interview am Abend des 12. Januar 2023 in: 1+1 Network’s TSN Channel
16 Merkur.de vom 26.2.2022
17 Gemeinsame Erklärung zur Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO, Januar 2023, Pressemitteilung, Brüssel, S. 1
18 Michael Brie: Was tun in Zeiten des Krieges?, ND-aktuell vom 28.12.2022
19 Vgl. Programm der Partei Die Linke, a. a. O., S. 19 und 46 f.
20 Leipziger Erklärung, Die Linke, 10. Dezember 2022
21 Stoppt den Krieg – keine »Leopard 2«-Panzer in die Ukraine, Die Linke, Beschluss 2023/328 des Parteivorstandes vom 14. Januar 2023
22 Linke gegen Krieg und Kriegsbeteiligung! Aufruf an den Parteivorstand und die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke vom 23. Januar 2023.