Erste Anmerkungen nach dem 2. Kongress von »Was tun?«
Netzwerk konsolidiert sich
Martin Dolzer, junge welt
Unter dieser Überschrift wird heute der Kongress kommentiert, der am Sonnabend zum Thema »Aktiv gegen Krieg und Sozialabbau« im Gewerkschaftshaus in Frankfurt a.M. mit rund 250 Teilnehmern zusammen kam. Das waren Vertreter aus »Was tun?!«-Gruppen und Karl-Liebknecht-Kreisen zahlreicher Bundesländern, verschiedenen Landesarbeitsgemeinschaften der Partei und der Strömung »Sozialistische Linke«.
»In Diskussionen wurde vielfach kritisiert, dass sich die Linkspartei immer weiter davon entfernt habe, eine Kraft an der Seite von Bewegungen zu sein. Sie verdränge Klassenpolitik durch Identitätspolitik, habe Positionen für Frieden und Sozialismus aus dem Erfurter Grundsatzprogramm aufgegeben und sich von der Mehrheit der Bevölkerung entfremdet. Zuletzt habe der Europaparteitag gezeigt, dass sie zur Kriegspartei geworden sei.«
Insgesamt wurde festgestellt: »Die Arbeit von »Was tun?!« und der Aufbau des »Bündnisses Sahra Wagenknecht« (BSW) seien richtige Schritte, um »in dieser historischen Situation dem Verfall linker Kultur und Politik etwas entgegenzusetzen«. Der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst (BSW, ehemals Linkspartei) betonte, dass es wichtig sei, Menschen eine humanistische Perspektive aufzuzeigen, die aus Protest gegen das Versagen sämtlicher Parteien und nicht aus rechten Überzeugungen die AfD wählen würden.«
Für das BSW erklärte der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (ehemals Linkspartei): »Wir befinden uns in einer ernsten sozialen Krise mit einer sich zunehmend radikalisierenden militaristischen Politik, in der die Herrschenden versuchen, jeden Andersdenkenden gesellschaftlich zu vernichten.«
Der Kommentator hob hervor, dass viele Kongressteilnehmer in den letzten Wochen aus der Linken ausgetreten sind und auf die Parteigründung des BSW warten, weil sie damit neue Möglichkeiten der Mitgestaltung erwarten, an denen es bisher mangele. »Heute wurde deutlich, dass sich ›Was tun?!‹ zu einem stabilen und lebendigen sozialistischen Zusammenhang mit Anbindung an Bewegungen in allen Bundesländern entwickelt hat«, so Mitorganisator Andreas Grünwald am Sonnabend gegenüber junge Welt.
In der Abschlusserklärung erklären sich die Kongressteilnehmer dazu, dass sich »Was tun?!« als Teil der Friedensbewegung sieht. Kathrin Otto vom Koordinierungskreis erkennt, dass mit der Bildung des BSW die politische Landschaft in Bewegung berate, was nicht zuletzt die AfD und weitere militaristischen Parteien schwäche. Und sie war zufrieden damit, dass dadurch »sowohl politisch als auch praktisch Handlungsorientierungen vereinbart wurden«.
junge welt, 04. Dezember 2023; Seite 4
Redebeitrag zum 2. Kongress des Netzwerkes „Was tun?“ am 02.Dezember 2023 in Frankfurt a.M.
Dr. Volker Külow, Liebknecht-Kreis Sachsen
Ich darf heute darüber reden, warum sich die Linkspartei in einer Existenzkrise befindet und wie sozialistisch orientierte Genossinnen und Genossen dort ihre weitere Arbeit gestalten.
Beginnen wir mit dem 1. Punkt: es hat in den letzten Jahren dazu viele treffende Analysen gegeben, die von der Parteiführung stets ignoriert wurden, egal ob es kollektive Beiträge von innerparteilichen Strömungen wie SL, AKL, KPF usw. oder prominente Einzelmeinungen wie z.B. von Fabio de Masi, Christa Luft, Hans Modrow und der Ältestenrat sowie Michael Brie waren. Die jeweilige Parteiführung hat das stets beharrlich ignoriert und sich in ihrer Scheinwelt bequem eingerichtet. Über Wahlniederlagen, Fehler, Defizite usw. wird schon lange nicht mehr substantiell diskutiert; magisches Denken ist an die Stelle ernsthafter Analyse und Erarbeitung einer linken Handlungsstrategie getreten.
Ekkehard Lieberam und ich haben seit Gründung des Liebknecht-Kreises Sachsen (LKS) im Jahr 2015 viele Beiträge insbesondere in der „jungen Welt“ zu den Gründen für diese reformistische Mauserung der Linken publiziert. Ich resümiere hier noch mal in gebotener Kürze unsere Erkenntnisse: Ausgehend von Luxemburg, Lenin und Robert Michels zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben dann in den 1950er und 1960er Jahren vor allem Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli die Ursachen von Anpassungsprozessen linker Parteien in der Herausbildung bürokratischer Strukturen erkannt. Abendroth schreibt, dass sich auch in einer sozialistischen Partei eine „Sozialschicht“ herausbildet, die eigene Interessen gegenüber den Interessen der Lohnarbeiter entwickelt und an „der verwaltungsmäßigen Fortführung der Partei in der gegebenen Existenzweise interessiert ist“. Diese agiert „konservativ im Rahmen dieser Aufgabe ohne über ihre eigene Situation in der Gegenwart hinaus denken zu wollen und zu können.“ Sie verliert damit unweigerlich an „politischer Intelligenz“ und entfernt sich zugleich immer weiter von der Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Interessen sie zu vertreten vorgibt.
Die Größe der Sozialschicht, die von der Partei lebt und zugleich auf Parteitagen oft die Mehrheit der Delegierten stellt, hatten wir im Herbst 2019 grob überschlagen: sie betrug in der LINKEN zusammen mit ihrer parteieigenen Stiftung ca. 2.300 Personen und war damit bedeutend größer als zu Zeiten der PDS (seinerzeit ca. 1.000). DIE LINKE hatte gegenüber der PDS ebenfalls signifikant bei den Einnahmen aus der Staatskasse zugelegt. Sie ist durch die existenzielle Abhängigkeit von pekuniären Zuschüssen und dem Angebot vielfältiger Karrieremöglichkeiten faktisch in eine verstaatlichte, systemkonforme Oppositionspartei verwandelt worden. Oder um es kurz und knapp mit Oliver Nachtwey zu sagen: „Die Kritik der politischen Herrschaft war lange ein zentrales Motiv der Linken. Aber nun lebt sie ganz gut mit und vom System.“
Damit komme ich zum 2. Punkt. Wie kann oder soll man unter diesen eher bedrückenden Umständen als Sozialist noch innerhalb der Partei agieren? Bevor ich auf diese Frage aus der Leipziger Perspektive eingehe (für anderes fühle ich mich nicht berufen), gestattet mir bitte eine kurze Vorbemerkung mit Blick auf unseren heutigen Kongress. Die Dynamik der gesellschaftlichen Bewegung ist ungeheuer gross und geht es immer schneller in Richtung einer Vertiefung der „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler). Wir brauchen daher zwingend mehr friedenspolitische und sozialpolitische Gegenmacht von links gegen den nun fast täglich verschärfte Kanonen-statt-Butter-Politik der Herrschenden (siehe das Münkler-Interview in den letzten Tagen zur atomaren Aufrüstung Europas). Tatsächlich ist derzeit aber nicht die Linke, sondern die Rechtspartei AfD zur ersten Adresse des politischen Protestes sowohl bei Wahlen als auch im außerparlamentarischen Bereich geworden.
Das linke Parteienspektrum muss sich neu gruppieren und linke Genossinnen und Genossen sind dabei, dies zu tun. Aber es ist weder klar, ob dies gelingt, noch gibt es bislang ein überzeugendes Konzept, wie das gelingen kann. Wir sind noch alle auf der Suche nach dem richtigen Kompass. Bei dieser Suchbewegung brauchen wir eine Debatte über Grundfragen linker Politik und linker Parteientheorie. Allerdings m.E. weniger mit Bezug auf die Jahre im und nach dem Ersten Weltkrieg, sondern eher in Bezug auf die Traditionslinie der sozialistischen Zwischengruppen und des undogmatischen „westlichen“ Marxismus der fünfziger und sechziger Jahre, wie sie in der Debatte um die Krise der SPD insbesondere Wolfgang Abendroth vertrat.
Es gibt auch heute (ähnlich wie damals) eine vage politische Unzufriedenheit inner- und außerhalb der Linkspartei, aber keine größere Massenbewegung für eine linke parteipolitische Alternative. Der weitere Niedergang der Linkspartei scheint mir unaufhaltsam – mit einzelnen möglichen Ausnahmen. In der größten ostdeutschen Stadt, meiner Heimatstadt Leipzig, ist die Linkspartei noch – um mit Wolfgang Abendroth zu sprechen – „Operationsbasis“ für linke Politik. Im Leipziger Stadtrat, dem ich angehöre, sind wir die stärkste Fraktion; zusammen mit SPD und Grünen gibt es eine relativ stabile Mehrheit in der Ratsversammlung. Wir beeinflussen damit erheblich die Leipziger Kommunalpolitik im Interesse der arbeitenden Menschen.
In dem Zusammenhang ein zweites Problem: Wolfgang Abendroth schlussfolgerte aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, dass Gründungskongresse neuer linker Parteien nicht willkürlich einberufen werden können. Nur dann haben neue linke Parteien Erfolg, wenn eine entsprechende Aufbruchsstimmung unter der arbeitenden Bevölkerung vorhanden ist, wenn Hunderttausende auf der Straße eine neue konsequente linke Partei fordern. In den Jahren 2005 ff. gab es diese Aufbruchsstimmung im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Agenda 2010. Heute ist sie offenkundig nicht vorhanden.
Mich beunruhigt in diesem Zusammenhang noch ein drittes Problem: die bisherige Theorieabstinenz vom BSW, wie sie aus der Video-Botschaft von Sahra Wagenknecht zur Gründung des Vereins und dem „Gründungsmanifest“ hervorgeht. Die Banalität und Schwammigkeit der politischen Sprache ist schon erstaunlich, wie sie in dem Credo zum Ausdruck kommt: „Wir brauchen eine Rückkehr der Vernunft in die Politik.“ Im Sinne von Wolfgang Abendroth sollten wir bekräftigen, dass die Durchsetzung von Vernunft in einer Klassengesellschaft eines sozialen Subjekts bedarf. Machtpolitische Grundlage linker Politik, so lehrte er, ist die Aktionskraft und Aktionsbereitschaft der abhängig Arbeitenden. In diesem Sinn stimme ich der Aussage in der Abschlusserklärung völlig zu, dass unser Netzwerk zumindest kurz- und mittelfristig ein Forum der theoretischen Debatte und des politischen Dialogs zwischen der Linkspartei und der neuen Partei sein sollte.