Krisenwahlen in Ostdeutschland 

Von Volker Külow  und Ekkehard Lieberam 

Es waren politisch hoch aufgeladene Landtagswahlen in Ostdeutschland am 1.  (Sachsen und Thüringen) und am 22. September (Brandenburg). Insgesamt 6,9  Millionen Wählerinnen und Wähler waren zum Urnengang aufgerufen. Mit  einer Rekordwahlbeteiligung machten sie deutlich, dass der »Osten« politisch  in Bewegung geraten ist und derzeit deutlich anders tickt als der »Westen«. Die  Wahlen erfolgten ein ganzes Jahr vor der Bundestagswahl. In den Wahlkämpfen  aber dominierten bereits die bundespolitischen Themen Migration und Friedenssicherung. Die Wahlen fielen in eine Zeit, in der sich das herrschende kapitalistische Sys tem auch in Deutschland in einem Dauerzustand »multipler Krisen«1 befindet.  Die ostdeutsche Wählerschaft war in ihrer Mehrheit erkennbar mehr denn je  politisch verunsichert und unzufrieden: mit der Politik der Bundesregierung, mit  der wirtschaftlichen Lage, der Versorgung im ländlichen Raum, mit den Zustän den an Schulen und Kitas und nicht zuletzt mit der Zuwanderung und den damit  verbundenen Problemen, mit dem Ukrainekurs der Bundesregierung und der  damit verbundenen Politik der »Kriegsertüchtigung« und mit der anhaltenden  Diskriminierung der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse.2 Nico Popp schrieb  in der »jungen Welt« vom 3. September von einer »gewissen Repolitisierung.«  In einer Zeit, in der politischer Widerstand zur Pflicht wird, boten sich die Land tagswahlen für viele als Möglichkeit an, ihre vielgestaltige Unzufriedenheit zum  Ausdruck zu bringen. Die in Berlin regierenden Ampelparteien SPD, Grüne und FDP hatten 2021  eine »Fortschrittskoalition« versprochen und nun das. Eine seit dem ersten Quar tal 2022 andauernde wirtschaftliche Stagnation bei real »Null Wachstum«3 trifft  eine Inflationsrate von immer noch fast zwei Prozent. Mit einer Rezession wird  gerechnet. Mehr Geld ist nur noch für die Rüstung da. 2024 erhöhen sich die Rüs tungsausgaben gegenüber 2023 um 23 Mrd. auf 90,6 Mrd. Euro bzw. um 25 Pro zent.4 Zwischen der Ukraine und Russland wütet ein NATO-Stellvertreterkrieg  nicht nur ohne Aussicht auf ein Ende, sondern mit einem möglichen Countdown  zum 3. Weltkrieg.

Für die im Bund regierenden Ampelparteien gab es schon bei den Umfragen  vor den Wahlen Tiefstwerte. Die Wahlen selbst waren für sie ein Debakel. Trotz  (oder wegen?) der »Brandmauer« gewann die AfD gegenüber 2019 deutlich Stim men hinzu. In Thüringen wurde sie mit Abstand stärkste Partei, in Brandenburg und Sachsen jeweils nur knapp von SPD und CDU auf den zweiten Platz verwie sen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das schon bei den Europawahlen  am 9. Juni aus dem Stand 6,2 Prozent erhalten hatte, schrieb in Thüringen, Sach sen und Brandenburg mit 15,8 Prozent, 11,8 Prozent und 13,5 Prozent Parteiengeschichte.

Im Osten Deutschlands erreicht damit die Krise der Repräsentation ein Aus maß und eine Ausformung wie in den EU-Ländern Frankreich, Niederlande,  Italien und zuletzt Österreich. WählerInnen bekunden ihre Absage an die Re gierenden mit einer Entscheidung für Rechtsaußen, solange ihnen keine bessere  Wahl angeboten wird. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass es sich bei den Wahl ergebnissen in Ostdeutschland nicht um eine merkwürdige Sonderstellung des  dortigen Wählerwillens handelt, sondern dass es die westdeutsche Wählerschaft  ist, die im EU-Maßstab (noch) eine Sonderstellung beanspruchen darf. Die Zeiten des einst stabilen Zweieinhalb-Parteiensystems von CDU/CSU,  SPD und FDP in der Alt-BRD liegen mehr als eine Generation zurück. Die Hoch Zeiten für CDU und SPD wie 1994mit 54,1 Prozent für die SPD in Brandenburg  und 58,1 Prozent für die CDU in Sachsen sind lange vorbei. Zwei neue Partei en (AfD und BSW) stellen in Thüringen die Mehrheit der Abgeordneten und  in Sachsen und Brandenburg fast die Mehrheit. Funktionsfähigkeit und Integra tionskraft des Parteiensystems kommen ins Trudeln; Anzeichen einer Krise der  Regierbarkeit sind nicht zu übersehen.

Die CDU kann als Oppositionspartei in Thüringen und Brandenburg weder  bei diesen Wahlen noch im Bund bei Umfragen von der verbreiteten Unzufrie denheit über die Regierungsparteien partizipieren. In Thüringen gewann sie ge rade einmal 1,9 Prozentpunkte hinzu. In Brandenburg verlor sie 3,2 Prozentpunk te. Das BSW mit seiner Forderung nach Frieden, Vernunft und Gerechtigkeit ist  im Aufwind. Die Grünen kämpfen ums Überleben; die FDP hat diesen Kampf in  den drei ostdeutschen Bundesländern erst einmal verloren. Von der seit 2007 be stehenden Linkspartei nehmen mehr als 56 Prozent ihrer Wählerschaft von 2019  Abschied. Ihre Existenzkrise vertiefte sich in allen drei Ländern. Mit dem erst maligen Ausscheiden in einem ostdeutschen Bundesland ist sie in Brandenburg  vermutlich schon in der Todeszone angekommen. Die 2013 gegründete Rechts außenpartei AfD, gegen die als vermeintlich »neue Nazipartei« mit Zustimmung  der Regierenden im ersten Halbjahr 2024 Millionen Menschen auf die Straße  gingen5, verbesserte sich gegenüber 2019 in allen drei Ländern.

Desaster für die Ampelparteien 

Überraschend waren die Wahlergebnisse am 1. und am 22. September in den drei  Ländern nicht. Umfragen hatten sie in etwa vorausgesagt. Allerdings gab es einige  überraschende Details. Auch nicht vorhersehbare Folgen des konkreten Wahl ergebnisses für die Mandatsverteilung brachten Unerwartetes (s. Tabelle 1).  Külow / Lieberam: Krisenwahlen in Ostdeutschland 3 

Tab. 1: Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg 2024 und 2019: Wahlbeteiligung und Wahlergebnisse in Prozent und Sitzverteilung
Thüringen  Sachsen  Brandenburg
2024 2019 2024 2019 2024 2019 2024 2019 2024 2019 2024 2019
Wahlbeteiligung (%) und Sitze
73,6 64,9 88 90 74,4 66,5 120 119 72,9 61,3 88
Stimmenanteile (%) und Sitze
CDU 23,6 21,7 23 21 31,9 32,1 41 45 12,4 15,6 12 15
SPD 6,1 8,2 6 8 7,3 7,7 10 10 30,9 26,2 32 25
AfD 32,8 23,4 32 22 30,6 24,6 40 38 29,2 23,5 30 23
Grüne 3,2 5,2 - 5 5,1 8,6 7 12 4,1 10,8 - 10
FDP 1,1 5,0 - 5 0,9 4,5 - - 1,0 4,1 - -
Linke 13,1 31,0 12 29 4,5 10,4 6 14 3,0 10,7 - 10
BSW 15,8 - 15 - 11,8 - 15 - 13,5 - 14 -
Freie

Wähler

1,3 - - - 2,3 3,4 1 - 2,6 5,0 - 5

 

Nicht nur die Medien und die Öffentlichkeit, auch die Wahlberechtigten selbst  zeigten großes Interesse für die Wahlen. Die Wahlbeteiligung (vgl. Tab.1) er reichte auch im Vergleich zu den neunziger Jahren Rekordwerte. Eine Umfra ge von INSA vom 6.8.2024 hatte die SPD in Brandenburg zu diesem Zeitpunkt  noch bei 20 Prozent und die AfD bei 24 Prozent gesehen. SPD-Ministerpräsident  Woidke setzte in der Schlussphase mit seiner Drohung, bei einem AfD-Sieg von  der politischen Bühne abzutreten, alles auf eine Karte und gewann; allerdings zu  Lasten der drei kleinen Landtagsparteien Grüne, Linke und Freie Wähler, die alle  an der Fünfprozenthürde scheiterten. Die bedeutendste Botschaft der Wahlen war die politische Abstrafung der in  Berlin regierenden Ampelparteien SPD, Grüne und FDP, insbesondere in Thü ringen und Sachsen. Die SPD verlor in Thüringen 2,1 Prozent (von 8,2 auf 6,1)  und in Sachsen 0,4 Prozent (von 7,7 auf 7,3). In Brandenburg, das seit 1990 von  sozialdemokratisch geführten Koalitionen regiert wird, erhielt die SPD dagegen  30,9 Prozent (+4,7 Prozent). Die Grünen erreichten in Sachsen noch 5,1 Prozent.  Die Linke fiel unter die Fünfprozentsperre und konnte sich nur dank zweier Di rektmandate in Leipzig in den Sächsischen Landtag retten. Mit Werten zwischen  1,1 und 0,8 Prozent erlebte die FDP einen Absturz zur Kleinstpartei in den drei  Ländern und ihre größte Wahlkatastrophe bei Landtagswahlen überhaupt.

Die Zustimmung zu den drei Parteien der Ampelregierung war in Thüringen  mit 10,4 Prozent noch geringer als das die Umfragen vor der Wahl schon signa lisiert hatten. In Sachsen betrug sie 13,1 Prozent, in Brandenburg dank der SPD  immerhin 35,9 Prozent. Dass die Verluste in Brandenburg nicht größer waren, lag  vermutlich auch daran, dass die Berliner Prominenz der Bitte der Brandenburger  SPD nachkam, sich nicht allzu sehr in den dortigen Wahlkampf einzumischen.

Jung, männlich, Arbeiter 

Nicht nur der Aufstieg der Rechtsaußenpartei AfD zur 30-Prozent-Partei in allen  drei Ländern, auch die Details dieses Ergebnisses sind bedeutsam. In zwei von  drei Ländern, in Thüringen und Brandenburg, ist die AfD zur stärksten Parla mentspartei in Ostdeutschland geworden, in Thüringen mit mehr als der drei fachen Stimmenzahl als sie die Ampelparteien insgesamt bekommen haben. In den Leitmedien wurde viel über die Ursachen dieses Erfolges spekuliert.  Eine wichtige Ursache ist sicherlich das Ansehen der AfD als neue »Ostpartei«. In  Sachsen vertraten 25 Prozent der Befragten die Meinung (und das war der höchs te Wert für eine Partei), der AfD wäre »am ehesten zuzutrauen, die Interessen der  Ostdeutschen zu vertreten«.6 

Deutlich überproportional sind die Gewinne der AfD bei den Jungwählern,  den Männern und den Arbeitern. In Thüringen wählten 38 Prozent der Jung wähler (18 bis 24 Jahre) und 36 Prozent der 25- bis 34-Jährigen die AfD (von  den über 70-Jährigen waren es »nur« 19 Prozent). 39 Prozent der Männer und 28  Prozent der Frauen wählten AfD. Von den Arbeitern gaben 39,9 Prozent der AfD  ihre Stimme (10,5 Prozent mehr als 2019), 28,1 Prozent der Angestellten und 40  Prozent der Selbständigen. Die Ergebnisse in Sachsen, und Brandenburg waren  ähnlich.7 

Im Wahlnachtbericht der Linkspartei Sachsen heißt es: »48 Prozent derjeni gen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage eher als schlecht bezeichnen, haben die  AfD gewählt, 45 Prozent derjenigen, die sich selbst als Arbeiter*Innen bezeich nen. 43 Prozent der AfD-Wähler*Innen stimmten aus Enttäuschung über andere  Parteien für die AfD, 50 aus Überzeugung.«8 

Weitaus die größte Anzahl der Nichtwähler von 2019 in den drei Ländern  wählte diesmal AfD. In Sachsen waren es 89.000, in Thüringen 71.000 und in  Brandenburg 79.000.9 

In Thüringen hatten es die Wählerinnen und Wähler mit einer von der Links partei unter Bodo Ramelow geführten Minderheitsregierung in Koalition mit  der SPD und den Grünen zu tun, toleriert von der CDU. In Sachsen hatten sie  zu entscheiden, ob Michael Kretschmer von der CDU als Ministerpräsident im  Amt bleibt und weiterhin mit der SPD und den Grünen regieren kann. In Bran denburg stand die Landesregierung unter Dietmar Woidke (SPD), der auch die  CDU und die Grünen angehörten, zur Wahl. In allen drei Ländern, verloren die  Regierungen (in Thüringen auch die Minderheitsregierung plus CDU) ihre par lamentarische Mehrheit. Regierungspolitik mit stagnierender Wirtschaft und steigenden Rüstungs ausgaben in den nächsten Jahren wird sowieso schwieriger. Mit den unklaren  parlamentarischen Kräfteverhältnissen, insbesondere dem Erstarken von AfD  und BSW, ist nun die Beschaffung von Regierungsmehrheiten wesentlich kom plizierter geworden – in den drei Ländern in unterschiedlichem Maße. In Thü ringen erschweren der CDU außerdem noch Unvereinbarkeitsbeschlüsse von  Parteitagen, die Koalitionen mit der Linkspartei und der AfD untersagen, die  Bildung einer Landesregierung. Dort gibt es auch infolge des Gewinns von mehr  als einem Drittel der Landtagsmandate durch die AfD für diese Partei eine Veto macht: bei Verfassungsänderungen, bei Parlamentsauflösungen und bei der Wahl  von Ausschussvorsitzenden und Verfassungsrichtern.

Das in der Alt-BRD häufige und gewollte Schaukelspiel einer Regierungspar tei (CDU oder SPD), die bei einer der nächsten Wahlen dann durch die Oppo sitionspartei (SPD oder CDU) beim Regieren abgelöst wird, hat im Osten nie  funktioniert. Diesmal ist die Situation ganz verwickelt. Das BSW wurde zum  »Königsmacher«. In Thüringen und in Sachsen gibt es für die CDU keine par lamentarischen Mehrheiten mit den etablierten Parteien. In Brandenburg kann  die SPD-geführte Regierung nach Woidkes Pyrrhussieg eine parlamentarische  Mehrheit nur mit dem BSW realisieren. Nach der »Wende« gab es in Sachsen  ausnahmslos von der CDU geführte Regierungen, in Brandenburg nur SPD-Re gierungen und in Thüringen bis 2014 (Wahl von Bodo Ramelow, Linkspartei)  nur Landesregierungen, an deren Spitze ein CDU-Politiker stand. Diese Zeiten  sind vorbei.

In Thüringen hätten AfD und BSW rein rechnerisch eine parlamentarische  Mehrheit. Ohne die Einbeziehung einer dieser Parteien ist eine Regierungsmehr heit für eine CDU-geführte Regierung nicht möglich. Aber selbst, wenn das BSW  beim Regieren mitmachen sollte, hat die CDU-Regierung noch keine parlamen tarische Mehrheit. Unumgänglich wäre die Einbeziehung der Abgeordneten der  Linkspartei, was aber infolge des Unvereinbarkeitsbeschlusses eigentlich nicht  geht. Auch in Sachsen braucht die CDU für eine Regierungsbildung außer den Ab geordneten des BSW für eine parlamentarische Mehrheit noch einen weiteren Partner, die SPD. In allen drei Ländern laufen seit Ende September entsprechende  Gespräche zwischen BSW, CDU und SPD. Nicht zu übersehen ist die Möglichkeit, dass das BSW auf diesem Wege fau le Kompromisse macht und so schnell »entzaubert« wird. Die Verführung zum  Regieren ist nun einmal die Hauptmethode, um eine neue Partei politisch zu do mestizieren und sie als Konkurrent im Kampf um die pekuniären und personellen  Pfründe des Parteienstaates stillzustellen. Bevor das BSW mit seinem friedens politischen Kurs überhaupt auf die Bundespolitik Druck ausüben kann, könnte es  das schon gewesen sein.

Sahra Wagenknecht und das BSW haben auf diese Gefahr bisher pragmatisch  reagiert. Sie erklärten, eine Koalition auf Landesebene mit dem BSW setze als  zentrale Bedingung voraus, dass eine gemeinsame Landesregierung sich gegen  Waffenlieferungen an die Ukraine und die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ausspreche und überhaupt »über der Bundesrat Druck auf die Bundes regierung ausübt«10. Das ist ehrenwert. Aber Zweifel sind angebracht, ob mit der  CDU eine Wende hin zu einer internationalen Sicherheitsallianz für die fried liche Streitbeilegung geschaffen werden kann. Das BSW tut das offensichtlich  und scheint daran zu glauben, dass in der BRD Regierungsbildung und Regieren  herrschaftsfreie Dialoge bzw. Vorgänge sind. Man wird sehen, welche Konflikte  dieser vorgebliche oder tatsächliche Irrtum nach sich ziehen wird.

Niedergang und Aufstieg 

Es war am 12. Januar dieses Jahres. Martin Schirdewan, damals Co-Vorsitzender  der Linkspartei, gab dem nd ein Interview. Er bot Wolfgang Hübner, Mitglied der  kollektiven Chefredaktion der linken Zeitung, eine Wette an. Er sei der Über zeugung, dass die Linkspartei bei allen vier im Jahre 2024 anstehenden Wahlen  (Europawahl und die drei Landtagswahlen) vor dem BSW landen wird. Er ver sprach: »Für jede Wette, bei der das nicht so ist, steht bei euch ein Kasten (Bier)  vor der Tür.«

Es kam, wie es kam. In Thüringen erhielt das BSW2,7 Prozent mehr als  die Linkspartei, in Sachsen 7,3 Prozent und in Brandenburg sogar 10,5 Prozent  mehr. Ob Martin Schirdewan die vier fälligen Kästen Bier nach der Europawahl  und den drei Landtagswahlen abgeliefert hat, ist unbekannt. Auf jeden Fall hat  er einen weiteren Beleg für die fehlende Realitätsnähe der Führungsmannschaft  der Linkspartei geliefert, auch dafür, dass der Abgesang der Linkspartei untrennbar mit dem Aufstieg des BSW verbunden ist. Nach den Untersuchungen zu den  Wählerwanderungen sind z.B. in Thüringen von den 190.448 Stimmen für das  BSW84.000 (oder etwa 45 Prozent) von den Wählerinnen und Wählern der  Linkspartei des Jahres 2019 gekommen.11 

Die drei Wahlen haben die galoppierende Existenzkrise der Linkspartei und  die enormen Chancen des BSW deutlich gemacht. Nur noch in einigen Hochburgen wie Leipzig und Thüringen ist die Linke eine politisch beachtenswerte  Größe. Die Linkspartei hat in den letzten Jahren wesentliche Positionen ihres  vormals systemkritischen und antimilitaristischen Profils aufgegeben. Das BSW,  gesellschaftstheoretisch ausgesprochen defizitär, aber mit einer klaren Ablehnung  der herrschenden Politik der Konfrontation und Eskalation des Stellvertreterkrieges von USA und NATO in der Ukraine, hat unter der Führung von Sahra  Wagenknecht folgerichtig vielen enttäuschten Anhängern der Linkspartei eine  neue politische Heimat geboten.

Es muss daran erinnert werden, wie die Führung der Linkspartei nach der  Rede von Sahra Wagenknecht am 8. September 2022 im Bundestag gegen die  antirussische Sanktionspolitik von USA und EU ihr schon damals deutlich die  rote Karte gezeigt hatte. Acht Bundestagsabgeordnete der Linkspartei verlangten damals ein Redeverbot für Sahra Wagenknecht im Bundestag. Drei Land tagsabgeordnete forderten sogar den Ausschluss von Sahra Wagenknecht aus der  Bundestagsfraktion und sammelten dafür Unterschriften, was bald wegen man gelnder Unterstützung eingestellt wurde.12 Der Bundesvorstand der Linkspartei  unter Martin Schirdewan und Janine Wissler schloss sich am 11. Juni 2023 dieser  Forderung an. Schon vorher wurde mit der Absage an die Friedensdemo am 23.  Februar 2023 der »politische Schwesternmord auf offener Bühne«13 begangen. Im  Januar 2024 gründete sich dann folgerichtig das BSW.

Nur einen Monat nach den drei Landtagswahlen fand vom 18. bis 20. Oktober  in Halle der Parteitag der Linkspartei statt, von dem neben der Neuwahl des Par teivorstandes eine kritische Analyse der Entwicklung seit dem Erfurter Parteitag  2022 und insbesondere der Ursachen des jüngsten wahlpolitischen Absturzes der  Partei erwartet wurden. Nicht nur in dieser Hinsicht versagte der Parteitag mit  seinen 570 Delegierten weitgehend, den die sozialistische Tageszeitung »neues  deutschland« treffend als »Motivationsseminar« charakterisierte. Die großen  Streitpunkte wie das Thema Israel/Palästina wurden deshalb entweder mit einem  Kompromissantrag abgebogen oder wie bei der Aufnahme des Bedingungslosen  Grundeinkommens (BGE) ins Programm mit großer Mehrheit abgelehnt. In  der Friedensfrage konnten die gravierenden Konflikte zwischen NATO-Freunden und antimilitaristischen Kräften allerdings nur mühsam kaschiert werden.  Bemerkenswert war, dass der von der Kommunistischen Plattform (KPF) und  anderen eingebrachte linke Änderungsantrag zum Leitantrag des Parteivorstan des unter dem programmatischen Motto »Schluss mit der Kanonen-statt-Butter Politik« immerhin 189 Stimmen erhielt.

Eine der Existenzkrise angemessene Strategiedebatte fand unter diesen Rah menbedingungen somit nicht statt; das gravierende Versagen der ehemaligen  Parteiführung um Janine Wissler und Martin Schirdewan wurde nicht kritisch  analysiert. Lieber verlor man sich mehrheitlich im BSW-Bashing bzw. im Einschwören der Delegierten auf den Bundestagswahlkampf 2025; hier setzt man  angesichts der Heterogenität der potenziellen Wählerschaft vor allem auf den  Gewinn von drei Direktmandaten, denn beim Überspringen der Fünf-Prozent Hürde regiert eher das »Prinzip Hoffnung«. Ganz in diesem Sinne dürfte die neue  Parteiführung um die Doppelspitze Ines Schwerdtner/Jan van Aken bemüht sein,  alle Strömungen, Netzwerke und Flügel zu integrieren und Widersprüche auszu gleichen. Der viel beschworene Neustart fällt damit allerdings ins Wasser.

1 Siehe dazu Frank Deppe: Autoritärer Kapitalismus. Der Aufschwung der politischen Rechten in  den Kapitalmetropolen des Westens. In: Z 139, September 2024, S.18–28.

2 Nach infratest dimap vom 1. 9. 24meinten das 74 Prozent der Befragten.

3 Vgl. Handelsblatt vom 28.8.2024.

4 Vgl. FAZ vom 17.6.2024. 2 Z Nr. 140 Dezember 2024 

4 Z Nr. 140 Dezember 2024 

5 S. dazu den redaktionellen Beitrag »Protestbewegung gegen rechts – eine Zwischenbilanz«, in: Z  138, Juni 2024, S. 92–100. Külow / Lieberam: Krisenwahlen in Ostdeutschland 5 Regieren wird schwieriger 

6 Z Nr. 140 Dezember 2024 

6 Vgl. Landtagswahl Sachsen 2024, DGB – Deutscher Gewerkschaftsbund, 2.9.24, S. 31. 7 In Sachsen wählten 31 Prozent der Jungwähler, 45 Prozent der Arbeiter, 28 Prozent der Angestellten  und 35 Prozent der Männer AfD; in Brandenburg 31 Prozent der Jungwähler, 46 Prozent der Arbei ter, 29 Prozent der Angestellten und 35 Prozent der Männer, vgl. infratest dimap vom 1.9.24 und  22.9.24.

8 Vgl. Wahlnachtbericht zur Landtagswahl in Sachsen: 1. September 2024, Die Linke, Berlin, 2.9.24,  S.14.

9 Vgl. Handelsblatt vom 3. September 2024 und infratest dimap vom 22.9.24.

10 BSW-Newsletter, 8.9.24.

11 Wählerwanderung nach infratest dimap vom 1.9.24. Külow / Lieberam: Krisenwahlen in Ostdeutschland 7 

12 Vgl. Ekkehard Lieberam: »Sisyphos lässt grüßen«. Die Leiden der Linken und die Leiden an der  LINKEN, Bergkamen 2022, S. 8f.

13 Michael Brie im Interview mit der Frankfurter Rundschau am 7.7.24.

8 Z Nr. 140 Dezember 2024